Marcel Wittkuhn

Leben ohne dich

An Alle, die immer noch an Marcel denken und die Grüße an ihn schicken/ schreiben - vielen herzlichen Dank!

Heute ist es 11 Jahre und 2 Monate.

Das Gesicht hinter der Mundschutzmaske. Angst und Sorge in den Augen. Bevor die Ärztin es ausgesprochen hat, haben Ihre Augen mir alles gesagt.

An diesem Tag, früh am Morgen…

7 August 2010 ist die Welt für mich stehen geblieben.

Für viele, viele Jahre.

Wie lebt man ohne sein geliebtes Kind? 

Immer eine Frage im Kopf- Was wäre wenn…

Es gibt nichts was einem helfen kann, außer man ist da und erträgt es mit.

Ich wollte, dass die ganze Welt über dieses Unglück erfährt. Deswegen haben wir angefangen zu schreiben und haben für Marcel eine Gedenkseite erschaffen. Der ganze Schmerz, die Verzweiflung, die Angst und die unendliche Sehnsucht musste raus.

Die Trauer ist so mächtig, die zerreißt deinen Körper, die besitzt deine Gedanken. Tag für Tag für Tag. Du empfindest nichts, keine Gefühle außer diese Sehnsucht. Dein Körper und dein Geist weigern sich dir zu gehorchen. Auch nachts nicht. Man geht ins Bett und wartet auf das Ende. Nur so, dachte ich, wird man diesen unfassbaren Schmerz los.

Ich war mir sicher, ich werde  so eine Nacht wie die Letzte nicht überstehen…aber nein. Jeden Morgen stand mein Mann vor mir und zwang mich aus dem Bett heraus. Jeden Morgen, Woche für Woche.

Ich könnte es mir auch leichter machen und mich mit  Schlaftabletten betäuben. Das wollte ich nicht. Ich war mir sehr sicher, dass ich auf Marcel warten muss.

Wir haben nicht die Möglichkeit gehabt uns zu verabschieden.

Und so habe ich gewartet. Auf jedes winzig kleine Zeichen. Man kann nicht glauben was man alles empfangen kann, wenn man diese ganze Welt und alles um sich herum für sich ausgeschaltet hat. Nein, ich war nicht verrückt geworden. Ich war traurig. Ich wollte diese andere Welt spüren. Die Welt, wo mein kleiner Junge jetzt war. Ganz alleine, ohne mich.

Und er kam. Marcel kam zu mir. Im Traum, im Halbschlaf, kam er zu mir um sich zu verabschieden, mehrfach. Ich bin ihm dafür so unendlich dankbar.  Es war so schön ihn wieder zu haben, ihn zu halten, zu küssen, zu riechen. Marcel hatte Zeit. Wir hatten zusammen Spaß und viel gelacht…Ich war so glücklich. Aber irgendwann musste er gehen…

Ich habe gebettelt, geweint und ihn angefleht mich nicht zu verlassen…

Es hat so wehgetan ihn wieder gehen lassen zu müssen.

Ja, es war ein Traum, aber er war so intensiv und so echt, dass es mir einfach geholfen hat die folgende Tage und Nächte zu überstehen. Ich würde alles dafür geben um Marcel noch mal so nah bei mir zu spüren.

Und so habe ich weiter gewartet. Auf vielleicht noch ein Zeichen und noch eins… Ich habe meinen Sohn bei mir gespürt. Es ist als wenn man sich in einer Parallel-Welt befindet. Und diese Welt ist - Marcel.

Die Zeit verging und ich wartete.

Alles was mein Mann und ich unternommen haben war nur ein Versuch diesen Schmerz los zu werden.

Wir haben eine Selbsthilfegruppe besucht. Die Eltern kennengelernt die ihre Kinder beerdigen mussten.

Beim ersten Treffen war ich entsetzt als ich gesehen habe, dass die Menschen bei der Begrüßung gelächelt haben. Nie im Leben konnte ich mir zu diesem Zeitpunkt nur vorstellen, dass man irgendwann mal wieder lächeln, geschweige lachen wird. Der Austausch von Gefühlen oder einfach Tipps zur Bewältigung des Alltags haben uns sehr geholfen. Wir haben da Menschen kennengelernt die unsere Freunde geworden sind. Es ist einfach so überwältigend diese unglaubliche Stärke und gleichzeitig eine Zerbrechlichkeit in diesen Menschen zu spüren. Was für die anderen nur ein Lachen war, war für uns harte Arbeit, Tausende Liter von Tränen und ein ständig schlechtes Gewissen unseren Kindern gegenüber. Wir dürfen doch nicht lachen ohne unseren Kinder- oder? Wir haben uns für die Fortschritte von den anderen aufrichtig gefreut. Wenn sie es schaffen, werden wir es irgendwann vielleicht  auch. So dachten wir damals.

Mit diesen Menschen, unseren Freunden, haben wir angefangen kleine Ausfluge zu machen, danach Urlaube. Es ist nicht nur Urlaub. Es ist so viel mehr.

Man ist so unsicher mit allem. Darf man es überhaupt schön haben? Was ist, wenn es mir gar nicht gut tut? Diese Gedanken haben auch die anderen Eltern gehabt und so hat jeder jedem geholfen über die Zweifel und über die Ängste hinweg zu kommen.

Die Sehnsucht bleibt.

Niemand kam auf die Idee zu sagen-

-        Du musst jetzt stark sein.. oder

-        Die Zeit heilt alle Wunden… oder

-        Du hast noch ein anderes Kind… oder

-        Marcel hätte es so gewollt…

Unsere Kinder waren immer bei uns und mit uns. In Gedanken.

Es ist nichts Schlimmes daran, daran zu glauben. Nur mit der Hoffnung überlebt man.

Nach und nach haben wir tatsächlich gelernt erstmal leise zu schmunzeln, wenn es witzig war. Dann zu lachen und  zu weinen wenn uns gerade danach ist, und über unsere Kinder offen zu sprechen auch wenn unsere Gesellschaft das nicht möchte und sich damit überfordert fühlt.

Aber auch unsere „alte“ Freunde haben uns unterstützt und waren immer für uns da. Nur so konnten sie uns helfen. Sie waren einfach da und haben mit uns diese schweren Zeiten durchgehalten. Erst jetzt ist mir bewusst geworden  wie schwer das für sie war. Sie haben  Marcel auch geliebt und vermisst. Wir sind dafür sehr dankbar.

In der Familie, die ich irrtümlich für sehr stark hielt, hat es leider „Risse“ gegeben. Wir waren  doch viel zu lange traurig und in unserer Welt „ gefangen“ und  so haben wir den Anschluss zu dem einen oder dem anderen verpasst. Das Leben  ging ja schließlich weiter;- für sie! Nur bei uns stand die Zeit immer noch still.

Zuerst waren es Stunden, dann Tage, jetzt sind das schon Jahre.

Viele denken wir haben unser Leben jetzt gut im Griff.

Ja, wir unternehmen viel. Auch wenn wir zuhause sind, suchen wir ständig irgendwelche Beschäftigungen. Wir haben beide einen neuen Job angefangen. Wir sind schon so viele Jahre in der ständigen Bewegung, dass das fast schon eine Sucht ist. 

Wenn wir Urlaub haben fragen uns alle – und was wird dieses Mal renoviert?

Wir haben einfach Angst  stehen zu bleiben. Damit dieser Schmerz uns nicht wieder einholt. Der kommt immer wieder in kleinen Schüben, dann wenn man gerade nicht damit rechnet. Es kann so ein guter Tag sein und dann plötzlich…. hat man einfach Lust zu weinen.

Früher wollte ich, dass jeder von unserem Marcel erfährt. Heute denke ich anders darüber.

Marcel ist mein größter Schatz. Und ich habe nicht das Bedürfnis mit jedem über ihn zu sprechen. Nur mit den wichtigsten Menschen.

Es tut mir gut zu lesen was die Menschen auf der Gedenkseite an Marcel schreiben. Es sind fast immer die gleiche Menschen. Aber sie begleiten uns von Anfang an!

                                  Danke euch allen!

Seit über 11 Jahren kann ich immer noch nicht gut schlafen, aber ich ärgere mich nicht mehr darüber, wir feiern immer noch unsere Geburtstage nicht, zu Weihnachten stellen wir keinen Tannenbaum, nur eine einzige Dekoration- den Nussknacker. Marcel liebte ihn. Und jedes einzelne Foto von Marcel kennen wir auswendig. Ich bin so froh, dass wir damals ( es gab noch keine Smartphone Fotos) so viele Fotos mit der Kamera gemacht haben.

Die Sehnsucht ist mein ständiger  Begleiter geworden. Ich musste damit leben lernen.

Unser Leben ist anders als vor dem 07.08.2010

Aber wir haben das Beste daraus gemacht - es ist OK.

Und so warte ich weiter, bis wir uns wiedersehen, mein kleiner Junge.

Nur die Hoffnung hilft.

Mama.